Onkel Erichs Kirmesgeld

Ich erinnere mich noch genau an die Mittwochnachmittage in meiner Kindheit, als wir die Kirmes schon von unserem Elternhaus im Hepper Weg riechen konnten. Da zog es einen förmlich in die Stadt. Meine Eltern staunten immer, wie schnell ich auf einmal rennen konnte. Unser Vater schockte uns jedes Jahr aufs Neue mit dem Satz: „Habt Ihr schon gehört? Die Kirmes fällt aus!“ Wir fielen aus allen Wolken. Wenn der Weihnachtsmann mal ausfällt – o.k.! Aber die Kirmes – nein, das geht gar nicht! 

Also ging ich auf „meine“ Kirmes. Immer wieder gerne auch mit meinem Onkel Erich. Da er mein Patenonkel ist, ging ich davon aus, dass es einen warmen Geldregen für meine Kirmesgeldbörse geben würde. Aber Pustekuchen. Erich Butz aus Meschede ließ sich nichts anmerken. Erst am Ende der Kirmes begriff ich, wie großzügig er wirklich war. Denn beim Kassensturz hatte ich drei Mal so viel Kirmesgeld wie zu Beginn der tollen Tage. Mein Onkel hatte mich immer losgeschickt, um etwas zu essen oder zu trinken zu holen, gab mir Geld und – das war entscheidend – wollte nie Geld von mir zurückhaben. 

Zuvor hatte ich mir einen Kirmesplan am Bahnhof besorgt. Das waren die Zeiten, wo wir einen Kirmesplan noch nicht downloaden konnten, sondern uns das begehrte Stück als Druckexemplar besorgten. Am liebsten ging ich damals mit meiner besten Freundin Kirsten auf die Kirmes. In der Schule arbeiteten wir dann schon mal unseren individuellen Kirmesbummel aus. Ein Kreuzchen hier. Eine Nummer dort und fertig war mein Plan. Im Kunstunterricht malten wir Kirmesbilder. Natürlich meistens Karussells. 

Meine erste echte Berührung mit einem Karussell hatte ich mit vierzehn Jahren. Ich wollte unbedingt ins Shake. Also rein! Ordentlich durchgeshakt kam ich wieder raus und die Kirmes war an dem Tag für mich zu Ende. Das war der Moment, in dem ich meinen Frieden mit den Karussells machte. Seither stehe ich gerne vor diesen Über-Kopf- und Hin-und-Her-Monstern und bewundere die Leute, denen das nichts ausmacht. O.k. – Happy Sailor geht noch, auch weil meine Kinder Charlotte und Hannes da gerne reingehen. Auch Big Monster fahre ich ab und an, auch wenn ich in der Krake immer wie verrückt schreien und lachen muss, damit mir nicht schlecht wird. 

Mit 16 Jahren begleitete ich im Rahmen eines Praktikums bei der Frauenhilfe ein paar ältere Damen und Herren aus der Thomä-Residenz auf der Kirmes. Ich war zutiefst beeindruckt, mit wie viel Enthusiasmus diese Herren und Damen bei der Sache waren. Die waren immer noch fast so kirmesverrückt wie früher. Drei über 80-Jährige hüpften förmlich in den Musik Express und johlten vor Freude, als dieses Traditionskarussell seine wellenförmigen Runden drehte. Danach gab’s dann wie selbstverständlich ein Würstchen und ein Bullenauge und dann noch mal in den Musik Express. Unglaublich!

Als Jugendliche und auch später ging ich natürlich jeden Tag auf die Kirmes. Am Mittwoch wurde es meist sehr spät. Denn man traf halt Hinz und Kunz von früher und hatte sich viel zu erzählen. Aber egal wie spät es wurde, morgens waren alle wieder beisammen – auf dem Pferdemarkt. Und wieder wurde intensivst gefeiert. Es gibt wohl keinen vergleichbaren Ort auf der Welt, an dem die Menschen im November bei Wind und Wetter draußen so viel gute Laune haben! Freitags kam mir dann manchmal der Gedanke: „Ach, eigentlich reicht’s jetzt!“ Aber genauso schnell, wie dieser Gedanke kam, so schnell verflog er auch wieder.  Zusammen mit den wundervollen Kirmesgerüchen, die mich schon wieder in ihren Bann zogen. Freitag und Samstag sind dann Familientage, bevor es am Sonntag zum großen „Abfressen“ geht. Die einen schreien „Alles muss raus!“ und wir denken „Alles muss rein!“. Natürlich auch ein Paradiesapfel. Schmeckt zwar nicht wirklich lecker, ist für mich aber seit Jahren ein Muss. Dann noch ein letzter Blick auf ein Karussell. In diesen Momenten denke ich an die „alten Herrschaften“ und wünsche mir, dass ich im Alter noch genauso fit und kirmesbekloppt sein werde, wie diese Menschen. Das wäre schön!

Von Christine Becke, Pflegemanagerin Petras Pflegeteam Soest

Eine Geschichte aus: 

https://blundus-shop.net/buecher/soest/10/soester-kirmesgeschichten-teil-4

Publiziert am:

30.12.23